Fortsetzung von «Wir werden verfolgt (Teil 1)»
Die Sicherheit, verfolgt zu werden, gibt den Ausschlag. Ich muss handeln. Meine Hand umfasst das Pfefferspray. Das werde ich natürlich nur im äußersten Notfall einsetzen, sollten wir wirklich angegriffen werden.
Wir befinden uns immer noch in der schlauchartigen Gangway zu den schwimmenden Docks des Hafens von Manaus. Wir sind ungefähr auf der Hälfte und ich weiß nicht, ob unser Verfolger sie schon betreten hat, da ich mich nicht umdrehen will. So gehen wir also bis zum Ende, dort knickt die Überführung nach rechts ab, bevor sie in eine Art offenen Innenraum mündet, in dem, schräg unter uns, einige Bars sind. Vor uns liegt majestätisch der Amazonas, der hier noch Rio Negro heißt.
Kurz vor der Mündung der Gangway bleibe ich stehen und sage zu Diana «lass uns doch hier mal gucken». Dann lehne ich mich betont lässig an die Brüstung. Diana schaut zum Amazonas, ich genau entgegengesetzt, nämlich in die Richtung, aus der wir gekommen sind.
Und da kommt er. Direkt auf mich zu. Für ihn muss das jetzt komisch sein. Sein «Opfer» steht da plötzlich am Ende dieses schmalen Ganges und erwartet ihn. Nein besser: fixiert ihn.
Ich stehe da nämlich und schaue ihm genau in die Augen. Den Bruchteil eines Augenblicks haben wir Blickkontakt, dann schaut er schnell weg. Er bemüht sich redlich, sich nichts anmerken zu lassen und vermeidet jeden Blickkontakt. Er vermeidet ihn allerdings so gründlich, dass es schon wieder unnatürlich wirkt. Zumal ich ihn fixiere wie eine Schlange das Kaninchen.
Mein Signal ist eindeutig: Kollege, ich habe Dich im Blick und weiß genau, dass Du etwas vorhast. Versuch es gar nicht erst. Psychologisch hat sich das Blatt in diesem Moment gewendet. Jetzt ist er – wenn auch nur Psychologisch – der Verfolgte. Meine Strategie ist einfach, die Frage ist nur, ob sie aufgeht: Ein selbstbewusstes Auftreten, verbunden mit dem Augenkontakt der klar macht, dass er «ertappt» wurde, soll aus dem vermeintlich schwachen Opfer einen starken Gegner machen.
Zwielichtige Gestalten und Kleinganoven wollen in der Regel keinen Stress, sie suchen sich immer schwache, unaufmerksame Opfer aus, davon gibt es ja in der Regel überall genügend.
Natürlich ist das alles in der Theorie leicht gesagt. Jetzt, wo ich selbst in der Situation bin, bin ich natürlich extrem angespannt und habe natürlich auch Angst. Das ist, bei all dem, was man über derartige Großstädte hört, glaube ich, nur natürlich.
Auf der anderen Seite denke ich auch, dass wir eine reele Chance haben, dass die von mir gewählte Strategie aufgeht, falls es sich wirklich um einen Kleinganoven handelt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, aber sicher kann ich mir da natürlich nicht sein.
Als er an mir vorbei ist, nimmt er sein Handy aus der Tasche und ruft jemanden an. Jetzt sackt mir das Herz wirklich in die Hose. Na super. Womöglich ruft er jetzt Verstärkung? Wenn er noch ein oder zwei Leute zusammen trommelt, die am Ausgang auf uns warten, dann sind wir geliefert. Denn hier sitzen wir in der Falle. In einer Sackgasse. Es gibt nur einen Weg zurück, nämlich den, den wir gekommen sind – über die Gangway.
Wir gehen jetzt erstmal ganz normal weiter und biegen links ab zu den Docks.
Die schwimmenden Docks des Amazonas
Die schwimmenden Docks sind genau das, was der Name sagt. Es sind schwimmende Anlegestellen für die Amazonasschiffe, die über im Winkel veränderbare Rampen mit dem Land verbunden sind und sich dem Niveau des Flusses anpassen. Der Amazonas erfährt zwischen Regenzeit und Trockenzeit ein Niveauunterschied von bis zu 14 Metern, da wird die Notwendigkeit für diese Maßnahme schnell deutlich. Die Schwimmenden Docks in Manaus wurden 1902 erbaut, sind 300 Meter lang und stehen heute unter Denkmalschutz.
Das ist alles schon beeindruckend, aber lange halten wir es hier nicht aus. Ich bin immer noch sehr unruhig.
Was ist, wenn der Typ wirklich Verstärkung geholt hat? Kurz überlege ich, ob wir uns vielleicht einfach hier an eine der Bars setzen sollten und so lange bleiben, bis er aufgibt. Das Ganze einfach aussitzen. Aber ein schneller Blick auf die Uhr sagt mir, dass das kein guter Plan wäre. In einer Dreiviertelstunde ist es Dunkel. Und das geht hier extrem schnell. Wir befinden uns sehr dicht am Äquator.
Der Gedanke gefällt mir überhaupt nicht. Im Dunkeln will ich auf gar keinen Fall mehr hier in der Stadt sein.
Da wir auch noch den richtigen Bus suchen müssen, schlage ich Diana vor, dass wir uns auf den Weg machen sollten. Sie ist sofort einverstanden, obwohl ich ihr von dem Typen immer noch nichts erzählt habe.
Wir gehen also wieder auf die Gangway zu, und zunächst sehe ich ihn nicht. Ich denke und hoffe schon fast, dass er vielleicht abgehauen seit, doch dann entdecke ich ihn am anderen Ende der Überführung. Er steht da und spielt an seinem Handy herum. Scheiße. Jetzt müssen wir an ihm vorbei. Was ist, wenn seine Freunde schon am anderen Ende auf uns warten?
Ich beschließe, noch einmal aufs Ganze zu gehen und an die Taktik von vorhin anzuknüpfen. Ich fixiere ihn wieder. Er schaut, sofort nachdem er es bemerkt hat, wieder auf sein Handy. Diesmal vermeidet er jeden Blickkontakt. Ich schaue ihn wieder unverwandt an und wir gehen so selbstbewusst wie nur irgendwie möglich an ihm vorbei. Das Schwierigste kommt, als wir dann an ihm vorbei sind. Ich darf mich jetzt nicht umdrehen. Das wäre ein Zeichen von Angst. Und die dürfen wir nicht zeigen. Also zwinge ich mich, mit klopfendem Herzen einfach weiter zu gehen bis wir aus der Gangway heraus sind und wieder auf der Straße. Jetzt beschleunige ich den Gang und sage Diana, wir müssten schnell sehen, dass wir den Bus finden, es werde gleich dunkel.
Die Busstation ist gleich gegenüber. Als wir wieder im «sicheren» Gemenge sind, drehe ich mich endlich um und schaue zu der Gangway. Der Typ ist nicht zu sehen. In mir reift die Hoffnung, dass wir gewonnen haben. Puh. Jetzt aber schnell raus aus diesem Wahnsinn.
Ich frage ein paar Leute, wo der Bus abfährt. Keiner weiß es genau, alle deuten nur auf das Gewusel von Bussen, die ständig hier vorbei fahren. Blöd ist, dass das hier offenbar eine Einbahnstraße ist und kein Bus in die Richtung fährt, aus der wir gekommen sind. Kurz entschlossen, es wird wirklich gleich dunkel, laufen wir den Weg zurück, den wir gekommen sind. Wieder an der Oper vorbei, zurück zu der Haltestelle, aus der wir ausgestiegen sind. Ich blicke mich einige Male um und bin mittlerweile sicher, dass der Typ uns nicht mehr folgt. Ein Stein fällt mir vom Herzen.
Auch an dieser Haltestelle ist Einbahnstraße, das hatten wir vorhin gar nicht bemerkt. Eine Frau erklärt uns, dass alle Busse eine große Schleife durch das Zentrum fahren. Das erklärt natürlich einiges. Nach kurzem Warten kommt der Bus. Wir steigen ein und fahren – natürlich – wieder direkt am Hafen vorbei. Das hätten wir auch einfacher haben können. Egal, die Hauptsache ist, wir sitzen sicher im Bus! Jetzt müssen wir «nur» noch die richtige Haltestelle zum Aussteigen ausfindig machen. Das ist gar nicht so einfach, wie es sich anhört, denn es mittlerweile stockdunkel und die Haltestelle hat keinen Namen.
Es ist wirklich schlagartig dunkel geworden. Eine Dämmerung gibt es hier fast gar nicht. Nichts sieht mehr so aus wie vorhin, als wir gekommen sind. Immerhin fahren wir quer durch eine Stadt mit 1,7 Mio Einwohnern.
Die Fahrt dauert fast eine halbe Stunde. Ich weiß noch, dass wir kurz nach dem Losfahren durch einen Tunnel gekommen sind. Auf den warten wir. Und endlich, als wir die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, kommt der Tunnel. Hier muss es jetzt gleich sein. Ja, da oben auf der Bergkuppe, das sieht irgendwie bekannt aus. Wir ziehen an der Leine, die dem Fahrer signalisiert anzuhalten, und steigen aus. Noch zwei Blocks laufen wir und dann sind wir endlich wieder in der Pousada.
Was für eine Höllenstadt.
Abends erzähle ich Diana bei einem wirklich wohlverdienten Bier von dem Typen. Sie sagt, sie habe am Anfang auch so ein komischen Gefühl gehabt, als ob uns jemand verfolge. Hinterher habe sie sich dann einfach so unwohl gefühlt in dem Gemenge.
Wir freuen uns jetzt jedenfalls noch mehr auf die Ruhe und Abgeschiedenheit, die uns ab morgen hoffentlich im Urwald erwartet! Morgen früh um 7:30 werden wir abgeholt…
Weiterlesen: Die zwei Flüsse
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Über meine Zusammenarbeit mit externen Partnern habe ich hier ausführlich geschrieben. Danke!
Ein Freund von mir war mit seiner Familie in Manaus im Urlaub. Die waren ein paar Tage in der Stadt, haben nichts gefährliches erlebt. Sie sind auch abends durch die Stadt gebummelt.
Wow, was für ein Kopfkino! Eine ähnliche Situation erlebten wir in Bremerhaven, beim Geld ziehen am Bankomaten. Zum Glück klärte sich die bedrohliche Situation nach ein paar Häuserecken und einem ebenso deutlich «unverwandten» Blick meinerseits (gefällt mir der Begriff). Eine Selbstbewusste aber nicht übertrieben dominant wirkende Körperhaltung hilft schon viel. Meine Frau bemerkte übrigens auch nichts von dem ganzen Vorfall und wollte sie ebenso nicht beunruhigen.
Interessante und spannende Geschichte, die auch ein wenig Angst macht. Solche Erlebnisse sind irgendwo auch mit der Grund, warum ich im Urlaub Großstädte eigentlich lieber meide. Ich habe jetzt noch keine weiteren Geschichten zu Brasilien hier gelesen. Ich bin über den Reisefotografie-Post hierher gekommen. Oft frage ich mich, ob das Gesehene (in der Stadt) den «Stress» denn wert war?
Hi,
die weibliche Intuition liegt selten falsch.
Zitat: «Abends erzähle ich Diana bei einem wirklich wohlverdienten Bier von dem Typen. Sie sagt, sie habe am Anfang auch so ein komischen Gefühl gehabt, als ob uns jemand verfolge. Hinterher habe sie sich dann einfach so unwohl gefühlt in dem Gemenge.»
Folgendes Buch kann ich empfehlen:
«The gift of fear» von Gavin de Becker
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Hallo
spannend geschrieben.