Nach dem Essen sitzen wir abends zusammen vor der Höhle. Glühwürmchen schwirren um uns herum und der goldene Mond geht über dem Tepui auf. Eine Surreale Stimmung! Und, wie versprochen, beginnt Balbina, uns eine Legende der Pemón Indianer – Ihres Stammes – zu erzählen.
Der Wunderbaum
Es gab eine Zeit, da hatten die Indianer noch keine Kassawa zu essen. Sie litten alle Hunger. Die Tiere und die Vögel hatten auch nichts zu essen. Sie hatten auch Hunger. Nur der Tapir ging regelmäßig jeden Morgen aus und kehrte des Abends zurück und war immer rund und fett. Die anderen sahen, was er fallen ließ: Bananenschalen, Zuckerrohrstreifen und andere Reste essbarer Dinge. Und sie sagten zueinander: «Der Tapir muss einen guten Futterplatz gefunden haben. Lasst uns ihn belauern!»
Am nächsten Morgen schickten sie das Aguti aus, um ihm zu folgen und herauszubekommen, wie er es anstellte, so gut genährt zu sein. Das Aguti tat, was ihm aufgetragen war und folgte dem Tapir einen langen, langen Weg in den Wald hinein. Dort machte dieser irgendwann unter einem riesigen Baum halt und sammelte dort die Früchte, die herabgefallen waren. Bei dem Baum handelte es sich um den Allepantepo. Es war ein wunderbarer Baum, denn alle Früchte, die man sich nur wünschen konnte, wuchsen auf seinen Zweigen: Bananen, Kassawa, Yams, Pflaumen, Ananas und alle die anderen Früchte, die die Indianer lieben. Sobald der Tapir sich vollgefressen hatte, erkletterte das Aguti heimlich den Baum und knabberte am Mais, um seinen Hunger zu stillen. Als es nichts mehr essen konnte, kam es herunter und brachte ein Maiskorn mit, um den Indianern zu zeigen, dass es Erfolg gehabt hatte.
Daraufhin folgten sie dem Aguti, das sie zu dem Baum zurückführte. Als sie ihn erreichten, waren viele Früchte zu Boden gefallen. Nachdem sie alle aufgelesen hatten, hatten sie aber noch nicht genug. Sie versuchten also den Baum zu erklettern, aber er war zu dick und zu glatt. In ihrer Gier beschlossen sie, ihn umzuhauen. Sie machten ein Gerüst rund um den Stamm und fingen an, mit ihren Steinäxten auf ihn einzuhacken. Sie arbeiteten zehn Tage und zehn Nächte, aber der Baum wollte nicht fallen – so dick war der Allepantepo! So schlugen sie weiter noch einmal zehn Tage und zehn Nächte, und noch immer wollte der Baum nicht fallen.
Irgendwann hatte ihre Arbeit sie durstig gemacht. Da gaben die Indianer allen Tieren Kalabassen zum Wasserschöpfen, nur dem Tapir gaben sie ein Sieb. Als sie an das Ufer kamen, tranken alle aus ihren Gefäßen. Nur der Tapir blieb durstig, denn aus seinem Sieb floss das Wasser so schnell heraus, wie er es hineinschöpfte. Das war ein Teil seiner Strafe dafür, dass er so habgierig gewesen war und das Geheimnis des Wunderbaumes für sich behalten hatte.
Nach Ablauf von abermals zehn Tagen und zehn Nächten, in denen sie ununterbrochen schlugen, fiel endlich der Baum. Die Indianer nahmen als ihren Anteil alle Kassawa, Zuckerrohr, Yams, Bananen, Bataten, Kürbisse und Wassermelonen. Das Aguti und die Paka und andere Tiere schlüpften in die Zweige, um sich alles zu holen, was sie gern hatten. Als der Tapir endlich vom Flussufer zurückkam, hatte man nur noch die Pflaumen für ihn übrig gelassen, und mit diesen muss er sich bis zum heutigen Tag zufrieden geben.
Als die Indianer nach Hause kamen, lebten Sie nun in einem wahren Überfluss. Sie hatten mehr als genug von allem, was sie von dem gefallenen Baum geerntet hatten, und machten sich keine Sorgen mehr. Sie feierten rauschende Feste und aßen und tranken bis sie nicht mehr konnten.
Leider jedoch, gingen die Vorräte schneller zur Neige, als sie gedacht hatten und vieles war auch nicht so lange haltbar und so verfaulte ein großer Teil der gesammelten Lebensmittel. Man kann sich ihr Entsetzen vielleicht vorstellen. Sie entsandten also schnell das Aguti zu dem Baum, um zu schauen, ob dort in der Zwischenzeit neue Früchte gewachsen seien. Aber das Aguti kehrte mit sehr betrüblichen Nachrichten zurück: Der Baum lag tot in der Gran Sabana und hatte nur noch trockene Äste. Lediglich sein Stumpf war stehengeblieben, aber auch dieser war tot und kahl.
In Ihrer Not riefen sie den Ältestenrat zusammen. Nach langer, erfolgloser Beratung wandte sich dieser an den weisen Bunia-Vogel.
Der Bunia-Vogel musste ihnen die Torheit ihres Handelns nicht mehr erklären, sie hatten sie selbst schon längst erkannt. Und so erklärte er ihnen, wie sie aus den Samen der verfaulten Früchte neue Pflanzen aufziehen konnten. Er erklärte ihnen, wie jede einzelne Frucht fortzupflanzen sei, wie sie geerntet werden konnten, ohne den Baum zu beschädigen und wie sie haltbar gemacht werden konnten.
Fortan verbrachten die Indianer ihre Tage damit, aus dem Samen der Früchte des Allepantepo neue Bäume zu Pflanzen. Dies war sehr mühsam, denn es stellte sich heraus, dass die Bäume Jahre brauchten, bis sie überhaupt trugen und dann auch nur eine einzige Art Früchte. Einen Baum, in der Größe und mit der Fülle an verschiedenen Früchten, wie den Allepantepo, gab es nie wieder.
Von dem Tag an waren den Indianern ihre Bäume heilig. Nie wieder schlugen sie einen ohne triftigen Grund. Der Wald und die Bäume wurden zu ihren Freunden und Lebensspendern.
«…und den Stumpf des Allepantepo», beendet sie ihre Geschichte, «habt ihr auf dem Weg hierher gesehen. Er ist, der Sage nach, stehengeblieben und versteinert.»
Balbina hat die Geschichte auf Spanisch erzählt und, damit es alle verstehen, hat Fidel parallel auf Englisch übersetzt. Jetzt kommen einige Nachfragen seitens der beiden Deutschen, da sie nicht so gut Englisch können. Zu unserer aller Überraschung, beantwortete Balbina einige der Fragen auf Deutsch!
Jetzt ist unsere Neugier natürlich geweckt! Auf die Frage, wo sie das gelernt habe, antwortet sie, dass sie einmal ein halbes Jahr in Deutschland gewesen sei. Zwei Münchener Touristen, die sie als Führerin kennen gelernt habe, hätten sie zu dieser Reise eingeladen.
Natürlich wollen wir die ganze Geschichte hören, und Balbina fährt fort zu erzählen:
Balbinas Geschichte
Ich liebe die Gran Sabana. Ich liebe meine Heimat. Aber mein größter Traum war es schon als Mädchen, einmal Europa, einmal das ferne Land, von dem ich so viele unglaubliche Geschichten gehört hatte, zu bereisen. Ein Traum, so weit weg, dass ich nie für möglich gehalten hätte, dass er jemals real werden könne.
Ich war damals Häuptling eines Stammes in der Nähe von Canaíma. Zu der Zeit bewegten wir uns schon nicht mehr nur in unserem traditionellen Leben, sondern verdienten uns auch schon mit Führungen etwas Geld. Ich lernte also auf einer der Wanderungen, die ich führte, die beiden Deutschen kennen. Und irgendwann fragten sie mich, ob ich sie nicht einmal in Deutschland besuchen wolle? Sie wollten mich dazu einladen, mir den Flug bezahlen. Natürlich konnte ich das nicht glauben und wollte es auch nicht annehmen. Aber sie bekräftigten ihre Einladung immer wieder und in mir keimte der sehnliche Traum meiner Jugend wieder auf, sollte er wirklich wahr werden?
Als ich das meinem Stamm berichtete waren alle anderen sehr traurig. Der Ältestenrat wurde einberufen und tagte ganze 2 Tage lang. Sie besprachen und diskutierten mein Ansinnen. Am Ende war ihre Entscheidung getroffen und sie stellten mich vor die Wahl: wenn ich wegginge, müsste ich das Häuptlingsamt für immer niederlegen.
Jetzt stand ich natürlich vor eine sehr schweren Entscheidung: sollte ich für meinen Traum alles aufgeben? Ich wusste ja, dass dieser Besuch nur ein paar Monate dauern würde. Was würde danach aus mir werden? Würden die Deutschen überhaupt ihr Wort halten? Von den Weißen in Venezuela war ich anderes gewöhnt. Hier wird immer so viel versprochen, und so wenig gehalten…
Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ich würde Europa sehenAber mein Wunsch, das ferne Land kennen zu lernen war so groß, dass ich mich trotz aller Bedenken dazu entschloss, den Schritt zu wagen. Ich nahm also wieder Kontakt mit den beiden auf, schrieb ihnen einen Brief. Und wirklich, sie bekräftigten ihre Einladung und schickten mir ein Flugticket!
Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ich würde Europa sehen, alles andere würde sich dann schon ergeben…
Schon der Flug war für mich ein riesiges Abenteuer. Plötzlich den festen Boden unter den Füßen zu verlieren ist für uns Indianer eigentlich unvorstellbar. Ich sah plötzlich zum ersten Mal in meinem Leben die Wolken von oben, und dachte, das sei schon Europa. Ich fragte mich nur, warum es so weiß sei? Es war eine verrückte Erfahrung.
Irgendwann landete das Flugzeug in München. Die beiden, die mich eingeladen hatten, schickten Freunde, um mich vom Flughafen abzuholen, da sie arbeiten mussten. Ihre Freunde aber, erkannten mich am Flughafen gar nicht – denn sie hielten, wie selbstverständlich, die ganze Zeit Ausschau nach einer Indianerin mit Federschmuck und Lendenschurz! Und ich war natürlich in ganz normale Sachen gekleidet!
In Europa war dann natürlich alles neu für mich. Noch nie hatte ich so große Städte, so viele Menschen, so wenig Natur gesehen. Ich nahm alles wissbegierig in mich auf und kam viel rum. Nach einigen Monaten bei meinen Freunden machte ich mich dann alleine auf den Weg, um mit der Eisenbahn noch andere Orte in Europa zu besuchen. Ich kam viel rum, war in Deutschland, Holland und England. Das waren tolle Monate.
Aber so gut es mir gefallen hat, es war doch eine andere Welt für mich. Nachts konnte ich oft nicht schlafen, da mir die Geräusche des Waldes fehlten. Stattdessen hörte ich Autos, Züge und Menschen. Das Heimweh zu meinem Stamm, zu unserem Wald, zu der Gran Sabana wuchs und wuchs in mir und obwohl ich nicht wusste, was mich zuhause erwarten würde, sehnte ich mich nun nach nichts sehnlicher, als zurückzukehren.
Nach einem halben Jahr dann ging mein Flug zurück und ich kam wieder wohlbehalten bei meinem Stamm an. Die Reise verlief noch recht abenteuerlich, aber das ist eine andere Geschichte.
Sie nahmen mich herzlich wieder in ihren Kreis auf und wollten natürlich alles über Europa wissen. An vielen Abenden musste ich ihnen die Geschichten am Lagerfeuer erzählen und sie hörten staunend zu. Die Häuptlingswürde allerdings, habe ich nie wieder bekommen.
Und damit beendet sie ihre Geschichte für heute. Gerne hätten wir noch mehr gehört – aber durch das Übersetzen ist es schon sehr spät geworden. Der Mond steht hoch am Himmel und es ist mittlerweile empfindlich kalt geworden. So beschließen wir, uns voller Vorfreude auf den morgigen Tag, der noch einmal ganz im Zeichen des Roraima stehen soll, in unsere Zelte zurückzuziehen.
Noch lange liege ich wach und denke über Balbinas Erzählungen nach. Es beeindruckt mich, dass die Indios hier, trotz Anpassung an die Zivilisation, noch sehr traditionell sind. Sie sprechen ihre Stammessprache, tragen Ihre Legenden von Mund zu Mund und erzählen auch uns sehr offen davon. Und sie sind sehr naturverbunden. Sie achten penibel auf allen Details. Wenn Balbina auf unseren Wanderungen auf dem Tepui an einer achtlos von irgendeinem Stiefel ausgerissenen Pflanze vorbeikommt, drückt sie diese sofort wieder liebevoll in die Erde – unser abgestumpftes Auge bemerkt es noch nicht mal…
Der Wunderbaum, in einer etwas anderen Fassung, und viele weitere indianische Sagen und Legenden aus Südamerika findet ihr auf zeno.org
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Alle Inhalte © Gunther Wegner
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