Diese Nacht ist die Hölle. Die Temperatur ist unter der Gefrierpunkt gefallen und jetzt macht sich unsere schlechte Ausrüstung bemerkbar. Die Isomatte, die mir der Typ von der Agency gegeben hat, ist superdünn und isoliert nicht wirklich auf dem nackten Fels. Mein Schlafsack ist ein Sommermodell, auch er ist bei den nun herrschenden nächtlichen Minusgraden hoffnungslos überfordert.
Ich behelfe mir so gut es geht, in dem ich alle Klamotten, die ich mit habe, übereinander ziehe. Viel schlimmer geht es Nico. Er hat gar keine Isomatte, weil der Dicke von der Agency sie ja vergessen hat. Ich schlage ihm vor, dass wir uns mit der Isomatte alle 2 Stunden abwechseln, aber davon will er nichts wissen. Falscher Stolz, wie sich noch herausstellen soll.
Nico legt all seine Sachen als Unterlage aus und hofft, somit der Kälte etwas zu entkommen. Dass das nicht wirklich funktioniert, merke ich an seinem unruhigen Schlaf.
Die kalte Nacht ist noch nicht ganz zuende, da höre ich plötzlich Balbina vor unserem Zelt. Sie versucht, uns zu wecken. Nanu, denke ich, es ist doch noch dunkel? Ich mache den Reißverschluss des Zeltes einen Spalt auf und stecke meinen Kopf raus. Warm ist anders. Sie deutet auf den Himmel und sagt nur: «Du fotografierst doch gerne…» und jetzt sehe ich was sie meint. Glutrot färbt sich der Himmel über dem Roraima. Es sieht aus, als stünden die Wolken in Flammen. Plötzlich ist die Kälte vergessen. Ich greife zur Nikon und springe aus dem Zelt. Da ich ja sowieso in meinen Anziehsachen geschlafen habe, muss ich keine Zeit mit Anziehen vergeuden.
Direkt vor unseren Zelten liegt ein Tümpel, in dem sich Regenwasser gesammelt hat. Dortdrin spiegelt sich die gesamte Pracht des Himmels noch einmal. Wow. Ich rufe Nico zu, er solle sich das auf keinen Fall entgehen lassen, aber er brummt nur missmutig zurück. Er ist froh, dass er in seinem Schlafsack liegt.
Nachdem ich das Schauspiel fotografiert habe gehe ich die fünfzig Meter zur Kante des Roraima, um die Aussicht zu genießen. Ich erhoffe mir, noch einmal die morgendlichen fünf Minuten zu erleben, in denen das Streiflicht der Sonne die Gran Sabana tief unter uns in dieses unvergleichliche Relief taucht. Als wir das gestern gesehen haben, waren wir ja noch am Fuß des Roraima, fast tausend Meter tiefer. Wie mag das jetzt von hier oben aus aussehen?
Vorsichtig nähere ich mich Schritt für Schritt dem Abgrund. Hier gibt es keinen Zaun und kein Geländer um einen Absturz zu verhindern. Balbina hatte uns von Besuchern berichtet, die urplötzlich von einer Böe erfasst wurden und abgestürzt sind. Dieser Gedanke und ein sich allmählich steigerndes Schwindelgefühl lassen mich vorsichtig sein. Momentan ist es zwar windstill, aber wie launisch das Wetter hier oben sein kann, haben wir ja schon erlebt.
Ich gehe bis einen Meter vor die Kante. An einem großen Felsen halte ich mich fest. Nach unten sind es fast tausend Meter. Unvorstellbar. Wirklich. Ich lasse den Blick über die Gran Sabana schweifen. Noch liegt sie flach im Schatten des Roraima. Tief atme ich die frische, morgendliche Luft in meine Lungen ein und werde mir der Situtation ganz bewußt, in der ich mich hier befinde. Alleine stehe ich hier auf dem Dach der Welt – und so fühlt es sich wirklich an – und kann kilometerweit über die Gran Sabana blicken. Es ist ein Blick wie aus dem Flugzeug. Ach was sage ich – viel besser! Kein Raum um mich herum, kein Fenster, sondern nur die pure Weite. Alles andere wirkt von hier aus so klein, so unwichtig. Ich spüre die Großartigkeit und Imposanz der Natur mit einer selten erlebten Intensität.
Gestört wird das Bild – natürlich – auch hier von kleinen Rauchsäulen. Von Menschenhand angezündete Savanne. Die Suche nach unberührter, perfekter Natur gestaltet sich heute, und das ist ein wirklich globales Problem, immer schwieriger. Wie wenige Flecken gibt es noch auf dieser Erde, an der die Natur unberührt ist? Man muss sie mittlerweile lange suchen.
Was hätte die Generation vor uns gesagt, wenn man sie in unserem Alter gefragt hätte? Was hätten die Menschen zwei Generationen vor uns gesagt? Und was wird die Generation nach uns vorfinden? Wie kurz ist doch die Zeitspanne, in der die Bevölkerung auf der Welt explodiert ist. In der mit der Industrialisierung die schonungslose Ausbeutung aller natürlicher Ressourcen eingeläutet wurde.
Kein Mensch kann jemals das wiederherstellen, was die Natur über Jahrmillionen erschaffen hat wenn es erstmal zerstört wurde. Und das Zerstören, das sehen wir tag täglich, das geht in wenigen Jahrzehnten. Selbst hier auf diesem Jahrmillionen sich selbst überlassenen Tafelberg hat der Mensch innerhalb von wenigen Dekaden seine Spuren hinterlassen.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, erreicht die Sonne den Rand des Roraima und ich darf nocheinmal erleben, worauf ich so gehofft hatte: Tief unter mir erscheint rot leuchtend das Relief der Gran Sabana. Gestern noch stand ich fast tausend Meter tiefer und es war schon imposant. Und was kaum steigerungsfähig erschien, wird heute doch noch einmal übertroffen. In einem hundertachzig Grad Panorama liegt vor mir die Gran Sabana mit ihren sanften Hügeln im rötlichen Streiflich der aufgehenden Sonne. Jeder Hügel wird vom sanften morgendlichen Licht angestrahlt und wirft seinen Schatten auf den nächsten Hügel.
Es ist wirklich zauberhaft und ich genieße jeden Augenblick.
Erneut sind es nur einige, kostbare Minuten, die dieses Schauspiel anhält, dann ist es vorbei, die Schatten sind verschwunden und kurz danach verschwindet auch die Sonne hinter den Wolken. Zeit für mich, zum Lager zurückzukehren.
Ich bin voller Tatendrang, ich will mehr von dem Tepui sehen. Nico ist nicht so gut drauf. Er hat kaum geschlafen. Wir können wirklich noch froh sein, dass das Wetter so gut ist! Undenkbar, wenn wir mir der Ausrüstung, die unser zur Verfügung gestellt wurde, hier oben in tagelangem Regen, Hagel oder Schnee hätten verbringen müssen. Auch solche diese Wettersitutationen sind für den Roraima nicht unüblich.
Nach einem liebevoll von Balbina und Thomas, ihrem Begleiter, zubereiteten Frühstück, brechen wir um acht Uhr zur weiteren Erkundung des Plateaus auf. Ich kann es kaum erwarten, Nico ist – verständlicherweise – nicht so motiviert. Zusätzlich zu der schlimmen Nacht plagen ihn sein Blasen nämlich ziemlich. Mittlerweile haben seine Füße mehr offene stellen, als heile Haut. Trotzdem hat er sie sich wieder tapfer getaped und wandert mit.
P.S.: Die Bilder unbedingt in Groß anschauen! Draufklicken und dann mit den Pfeiltasten vor und zurück blättern! Alle Bilder findet ihr in der Roraima-Gallerie!
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Alle Inhalte © Gunther Wegner
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Über meine Zusammenarbeit mit externen Partnern habe ich hier ausführlich geschrieben. Danke!
Ich starte in einer Woche Richtung Venezuela, werde auch auf den Roraima gehen und warte daher auf deine Berichte immer sehr gespannt. Jeder Bericht steigert meine Vorfreude auf Venezuela. Tolle Fotos, tolle Berichte! Super!
LG Barbara
Hallo Barbara! Danke für das nette Feedback! Ich würde mich freuen, von Deinen Erlebnissen zu hören, vielleicht einmal als Gastartikel hier auf der Seite?
Viele Grüße
Gunther