Die Vorfreude, heute endlich die Oberfläche des Roraima sehen zu können, lässt mich nur einen leichten Schlaf finden. Schon um sechs bin ich wach, und schaue aus dem Zelt. Der Himmel ist blau und zeigt nur ein paar kleine Wölkchen! Unser bisheriges Glück mit den Wetter scheint uns also nicht zu verlassen! Jetzt heißt es, die Beleuchtung der frühen Stunde zu nutzen, um zu fotografieren. Nico ist auch schon wach und so gehen wir gemeinsam die paar Meter vom Zelt weg zu dem Punkt, von dem aus man über die Gran Sabana blicken kann.
Die Aussicht übertrifft all unsere Vorstellungen. Sicher, wir hatten die Gran Sabana schon gestern von hier oben aus gesehen. Aber da sah sie noch flach und weit weg aus. Nun wirkt sie, im Streiflicht der aufgehenden Sonne, wie eine dreidimensionale topografische Landkarte. Die klare Luft des frühen Morgens verstärkt den Effekt: die tiefstehende Sonne lässt jeden Hügel reliefartig hervortreten. Ein einmaliger Anblick! Minutlich ändert sich das Licht- und Farbenspiel und nach sehr kurzer Zeit ist es vorbei. Jetzt können wir die unzähligen Hügel, Täler und Flussläufe nicht mehr so plastisch sehen.
Wir sind jedenfalls hellwach und können es, trotz Blasen und Muskelkater, kaum erwarten, weiter zu gehen. Heute werden wir endlich sehen, wie es oben auf dem Tafelberg aussieht! Ich habe mir im Vorfeld extra noch keine Bilder oder Videos von oben angesehen, sondern bislang nur von den Sagen und Legenden gehört, die sich um diese «Berge der Götter» ranken. Dieser Trek wird für uns immer mehr wie ein gutes Buch: die Spannung steigt, und wir wissen absolut nicht, was uns oben erwartet – nur dass es anders sein muss als alles, was auf der Erde sonst an Landschaftsformen existiert.
Nico und ich packen zusammen und starten wieder als erste, um auch den heutigen Aufstieg als Vorhut alleine in Angriff zu nehmen. Wir brauchen einfach Ruhe, um diese einmalige Natur in uns aufnehmen zu können. Der Aufstieg durch den an den unteren Flanken des Roraima vorherrschenden Regenwald ist steil, aber machbar. Glücklicherweise liegt die Strecke im Schatten des Tafelbergs. Schon jetzt brennt die Sonne nämlich unbarmherzig auf die unter uns liegende Gran Sabana.
Die Vegetation ist wunderschön. Wir wandern durch tropische Gewächse wie Farne, Moose und viele bunte Blumen, z.B. Bromelilen und Orchideen. Hin und wieder treffen wir auf einen Wasserfall mit einem natürlichen Becken. Dort trinken wir und füllen dann unsere Flaschen für den weiteren Aufstieg auf. Glücklicherweise gehen wir alleine und können so die Ruhe und die wunderbare Landschaft genießen.
Nach einigen großartigen Aussichtspunkten erreichen wir die steil aufragende Wand des Roraima. Direkt vor uns erhebt sie sich fast Tausend Meter senkrecht nach oben. Unvorstellbar! An ihrem Fuße stehend, kommen wir uns mehr als winzig vor und schon beim Hochschauen wird uns schwindelig.
Kurz nach Erreichen der Wand kommen wir zu einer kritischen Passage. Hier müssen in Stück wieder abwärts kraxeln, bevor wir die sogenannte «Rampe» erreichen, einen schrägen Vorsprung an der sonst glatten Wand des Roraima. Die Rampe ist nach wie vor die erste und einzige Möglichkeit, den Roraima ohne technische Hilfsmittel zu besteigen. Nach dieser Möglichkeit hatten Expeditionen jahrzehntelang gesucht. Und selbst nachdem sie den Aufgang gefunden hatten, scheiterten die ersten noch an genau der Passage, über die wir nun kraxeln.
Interessant ist, dass auch vor den Europäischen Forschern, kein Mensch jemals die Tafelberge bestiegen hat. Für die Ureinwohner waren diese nämlich heilige Berge, sie haben sie nie betreten.
Die Erstbesteigung des Roraima gelang Everard Im Thurn 1884, nachdem der deutsche Forscher Robert Schomburgk ihn 1838, also fast fünfzig Jahre vorher, endeckt hatte. In der Zwischenzeit haben mehrere Expeditionen vergeblich versucht, ihn zu besteigen. Die Forscher waren damals genauso gespannt wie wir – sie vermuteten Nachfahren der Dinosaurier auf den Tepuis. Es war die Zeit, in der der britische Forscher Charles Darwin seine bahnbrechende Evolutionstheorie veröffentlich hat. Da passte die Vermutung, dass sich auf diesen «Inseln der Zeit», ohne Verbindung zum Rest der Welt, endemisches Leben entwickelt haben müsse. Eine Ursache dafür ist die mehrere hundert Meter hohe Steilwand, die eine unüberwindbare Barriere für die meisten Lebewesen darstellt, eine andere ist der Unterschied im Klima zischen dem Regenwald am Fuß und dem Plateau. Auf dem Boden herrscht ein feuchtes, tropisches Klima (~ 30 °C), auf dem Plateau dagegen ein eher gemäßigtes (~ 10 °C) mit sehr unterschiedlichen Wetterverhältnissen.
Die Überlegeungen freilich gingen in der damaligen Zeit noch weiter: Viele vermuteten letzte lebende Dinosaurier auf den Tepuis. Arthur Conan Doyle inspiriertes das dann 1910 zu seinem weltberühmten Roman «The Lost World», welcher unter anderem Vorlage für die Jurassic Park Filme lieferte.
Natürlich kann man die Herausforderung, der wir uns hier stellen müssen nicht mit derjenigen vergleichen, vor der die ersten Entdecker standen: wo heute ein größtenteils gut sichtbarer, ausgetretener Pfad verläuft, mussten sie die damaligen Forscher noch mit der Machete ihren Weg durch undurchdringlichen Dschungel bahnen. Immer, wenn wir links und rechts des Pfades blicken, wird uns klar, warum diese Expeditionen Wochen und Monate für die Strecke gebraucht haben, die wir in drei Tagen bewältigen: wir müssen uns nur vorstellen, dass der dichte Urwald, der hier überall wächst, auch den Pfad überwuchern würde!
Die vor uns liegende, kritische Passage überwinden wir dann auch mit einiger Kraxelei. Danach geht es wieder sehr steil bergauf. Jetzt steigen wir «Nase am Berg» die Rampe hoch. Auf halber Höhe circa, fällt ein Wasserfall direkt vor uns herunter. Das Wasser kommt als feiner Sprühregen auf der Rampe an und wir halten kurz inne. Verschnaufen und Fotos machen.
Dann verpacke ich die Kamera wasserdicht, Nico zieht die Regenhülle über seinen Rucksack. Gerade, als wir noch unsere Sachen verpacken, trifft John, der Engländer aus unserer Gruppe bei uns ein. Er hat sich offenbar mächtig beeilt. Von seiner Freundin ist jedenfalls noch nichs in Sicht. Er hält sich auch gar nicht lange auf, sondern klettert an uns vorbei über die glitschigen Steine unter dem Wasserfall und weiter. Der Wasserfall ist jetzt auch unsere nächste Aufgabe.
Gar nicht so einfach, mit den schweren Rucksäcken auf dem Rücken und dem Blick in den Abgrund links von uns. Mit der größtmöglichen Vorsicht überqueren wir die nassen Felsen. Nach ca. 50 Metern erreichen wir wieder trockenen Untergrund. Hinter uns wirkt die Rampe wie eine riesige Rutsche. Vor uns sehen wir den blauen Himmer über dem Roraima. Seine Oberfläche ist jetzt schon zum greifen nah!
Fasziniert beobachten wir, wie die Vegetation sich ändert. Pflanzen, die wir noch nie im Leben gesehen haben, tauchen zwischen den Steinen auf. Und überhaupt: die Steine! Sie nehmen immer bizarrere Formen an, je dichter wir der Oberfläche kommen. Und dann ist es geschafft, nach fast 3 Stunden Aufstieg stehen oben auf dem Dach der Gran Sabana und lassen den Blick über diese ganz besondere, fast unbechreibliche Landschaft schweifen. Eine Landschaftsform, die meine Erwartungen und Vorstellungen bei weitem übertrifft: so etwas haben wir noch nie gesehen!
Das Dach der Gran Sabana ist nicht Steppe, Wüste oder Regenwald – nein! Es ist eine seit Millionen von Jahren sich und den Elementen überlassene Gesteinswelt mit abenteuerlichen Felsformationen, die wie zu Stein gewordene Fabelwesen aussehen. Dazwischen wachsen interessante Gewächse: Blumen, Büsche, Farne, Moose und sogar einige kleine Bäume. Der Flora und Fauna sieht man auf den ersten Blick an: Das ist wirklich eine «lost World»!
Ein Journalist für das Magazin «National Geographic» beschrieb seine Eindrücke auf dem Plateau folgendermaßen:
Was ich im letzten Tageslicht in der Landschaft noch erkennen kann, scheint aus einem Alptraum zu entstammen. Felsblöcke und Spitztürme jeder Größe und Form liegen wild aufeinander gestapelt herum. Stürmischer Wind peitscht eiskalten Regen in unsere Gesichter (.…). Es gibt kaum einen Quadratmeter ebener Fläche. Wo kein glitschiger nackter Felsen liegt, ist bodenloser Morast. Es fällt nicht schwer sich die Türme und Steinsäulen als Ruinen langvergangener Kulturen vorzustellen. Ich habe Visionen von kollosalen Statuen ägyptischer und griechischer Gottheiten, siamesischen Pagoden, Zwerge, Elefanten und Riesenkamelen, alles für die Ewigkeit in Stein erstarrt.
Da uns im gegensatz zu dem Kollegen, das Wetter mehr als hold ist, möchte ich hier noch eine andere Stimme zitieren, die unseren Eindrücken noch viel näher kommt.
Mathias Becker schreibt in seinem Artikel «Auf einem Berg vor unserer Zeit» im Lüneburger Hochschulmagazin «Univativ»:
Fast übergangslos finden wir uns plötzlich in einer unwirklichen Mondlandschaft aus grauer Vorzeit. Die bizarrsten Felsformationen aus schwarzem Sandstein umgeben uns, als hätten Riesen hier einst Kleckerburgen aus Sand errichtet, die nun zu Stein erstarrt sind. Die Landschaft ist übersäht mit Wasserlöchern und Tümpeln, Cañons und Sümpfen. Keine der Pflanzen um uns herum ist mir vertraut. Sie wirken wie aus einem Traum. Große weiße Blüten, die aus merkwürdigen Blattrosetten wachsen, muten an wie zerbrechliches Porzellan. Andere Pflanzen leuchten so intensiv rot, als wären sie frisch lackiert. Die wassergefüllten Trichter fleischfressender Pflanzen finden Halt auf nacktem Fels. Verstärkt wird die unheimliche Atmosphäre dieses Ortes noch durch Nebelschwaden, die vom Wind zerrissen immer nur einen Teil des Ganzen erkennen lassen.
Plötzlich sehen wir eine Riesenschildkröte auch einem Felsen liegen. Sie ist fast 5 Meter lang – das gibts doch nicht?? Natürlich nicht – auch wenn hier vieles phantastisch anmutet: Heute weiß man, dass auf den Tepuis für Tiere, die größer als ein Fuchs sind, kein Leben möglich ist. Bei der Schildkröte handelt es um eines der unzähligen Fels-Fabelwesen. Die Legende der Dinosaurier hat sich also leider nicht bewahrheitet. Aber darüber können wir ja eigentlich ganz froh sein, oder?
Immer wieder schieben sich Wolken von unten, über die Kante auf den Roraima. Gespenstig sieht das aus. Noch haben wir größtenteils blauen Himmel, aber wir spüren: das kann sich hier oben schlagartig ändern. Während wir noch auf die anderen warten, bestaunen wir die bizarren Felsformationen. Nicht nur eine Schildkröte gibt es hier, sondern auch einen Riesenfrosch, Felsen, die wie Gesichter aussehen und viele andere Fabelwesen. Der Fantasie des Betrachters sind hier wirklich keine Grenzen gesetzt!
Allmählich treffen nun auch die anderen aus unserer Gruppe ein. Nur John haben wir noch nicht finden können, obwohl er doch vor uns war!
Bis auf John und die Deutschen, die konditionell völlig außen sind, sind nun alle oben angekommen. Ich bespreche mich kurz mit Balbina und berichte ihr, dass John vor uns gewesen sei, nun aber nicht mehr aufzufinden sei. Wir beschließen, dass einer von uns noch ein Stück vor gehen solle, um nach ihm Ausschau zu halten. Die anderen würden hier warten. Fidel bietet sich an und läuft los.
Nach zehn Minuten kommt er wieder und berichtet, er habe niemanden gesehen. Wir warteten noch eine Weile gemeinsam und dann gehen wir weiter. Wir können uns nur vorstellen, dass John den Weg, der hier noch recht gut auszumachen ist, weitergegangen ist, obwohl Balbina die klare Bitte geäußert hatte, am Ende der Rampe zu warten. An andere Möglichkeiten möchten wir im Moment nicht einmal denken. Balbina geht nun vor und sehr bald wird uns klar, warum man ohne Führer hier nicht hinauf gehen darf und sollte. In dem Labyrinth aus Felsen, Tümpeln, Pflanzen und Klippen findet man sich kaum zurecht. Zwar ist der Weg zunächst noch etwas ausgetreten, aber auf dem nackten Fels verliert er sich auch immer sehr schnell wieder. Hier so zielsiecher durchzuwandern, wie Balbina, grenzt für uns an ein Wunder! Vielleicht ist das ja auch der wahre Grund für den Namen «the lost World»… Wie sollen wir John nur jemals in diesem Labirynth aus Felsen, Tümpeln und Büschen finden??
Zu allem Überfluss sind die Wolken, die wir vorhin schon beobachtet hatten, jetzt viel dicker geworden. Als Nebelbänke ziehen sie jetzt über den Roraima. Balbina merkt man die Anspannung jetzt deutlich an. Je schlechter das Wetter wird, umso geringer werden unsere Chancen, John in diesem Labyrinth wieder zu finden…
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Alle Inhalte © Gunther Wegner
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Über meine Zusammenarbeit mit externen Partnern habe ich hier ausführlich geschrieben. Danke!
Spannender Bericht und tolle Bilder!
Danke dafür!