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Balbina erzählt – Roraima Trek, 3. Tag

Nach dem Essen sit­zen wir abends zusam­men vor der Höh­le. Glüh­würm­chen schwir­ren um uns her­um und der gol­de­ne Mond geht über dem Tepui auf. Eine Sur­rea­le Stim­mung! Und, wie ver­spro­chen, beginnt Bal­bi­na, uns eine Legen­de der Pemón India­ner – Ihres Stam­mes – zu erzählen.

Bal­bi­na erzählt, wäh­rend der Mond über dem Rorai­ma aufgeht

Der Wunderbaum

Es gab eine Zeit, da hat­ten die India­ner noch kei­ne Kas­sa­wa zu essen. Sie lit­ten alle Hun­ger. Die Tie­re und die Vögel hat­ten auch nichts zu essen. Sie hat­ten auch Hun­ger. Nur der Tapir ging regel­mä­ßig jeden Mor­gen aus und kehr­te des Abends zurück und war immer rund und fett. Die ande­ren sahen, was er fal­len ließ: Bana­nen­scha­len, Zucker­rohr­strei­fen und ande­re Res­te ess­ba­rer Din­ge. Und sie sag­ten zuein­an­der: «Der Tapir muss einen guten Fut­ter­platz gefun­den haben. Lasst uns ihn belauern!»

Am nächs­ten Mor­gen schick­ten sie das Aguti aus, um ihm zu fol­gen und her­aus­zu­be­kom­men, wie er es anstell­te, so gut genährt zu sein. Das Aguti tat, was ihm auf­ge­tra­gen war und folg­te dem Tapir einen lan­gen, lan­gen Weg in den Wald hin­ein. Dort mach­te die­ser irgend­wann unter einem rie­si­gen Baum halt und sam­mel­te dort die Früch­te, die her­ab­ge­fal­len waren. Bei dem Baum han­del­te es sich um den Alle­pan­tepo. Es war ein wun­der­ba­rer Baum, denn alle Früch­te, die man sich nur wün­schen konn­te, wuch­sen auf sei­nen Zwei­gen: Bana­nen, Kas­sa­wa, Yams, Pflau­men, Ana­nas und alle die ande­ren Früch­te, die die India­ner lie­ben. Sobald der Tapir sich voll­ge­fres­sen hat­te, erklet­ter­te das Aguti heim­lich den Baum und knab­ber­te am Mais, um sei­nen Hun­ger zu stil­len. Als es nichts mehr essen konn­te, kam es her­un­ter und brach­te ein Mais­korn mit, um den India­nern zu zei­gen, dass es Erfolg gehabt hatte.

Dar­auf­hin folg­ten sie dem Aguti, das sie zu dem Baum zurück­führ­te. Als sie ihn erreich­ten, waren vie­le Früch­te zu Boden gefal­len. Nach­dem sie alle auf­ge­le­sen hat­ten, hat­ten sie aber noch nicht genug. Sie ver­such­ten also den Baum zu erklet­tern, aber er war zu dick und zu glatt. In ihrer Gier beschlos­sen sie, ihn umzu­hau­en. Sie mach­ten ein Gerüst rund um den Stamm und fin­gen an, mit ihren Stein­äx­ten auf ihn ein­zu­ha­cken. Sie arbei­te­ten zehn Tage und zehn Näch­te, aber der Baum woll­te nicht fal­len – so dick war der Alle­pan­tepo! So schlu­gen sie wei­ter noch ein­mal zehn Tage und zehn Näch­te, und noch immer woll­te der Baum nicht fallen.

Irgend­wann hat­te ihre Arbeit sie durs­tig gemacht. Da gaben die India­ner allen Tie­ren Kala­bas­sen zum Was­ser­schöp­fen, nur dem Tapir gaben sie ein Sieb. Als sie an das Ufer kamen, tran­ken alle aus ihren Gefä­ßen. Nur der Tapir blieb durs­tig, denn aus sei­nem Sieb floss das Was­ser so schnell her­aus, wie er es hin­ein­schöpf­te. Das war ein Teil sei­ner Stra­fe dafür, dass er so hab­gie­rig gewe­sen war und das Geheim­nis des Wun­der­bau­mes für sich behal­ten hatte.

Nach Ablauf von aber­mals zehn Tagen und zehn Näch­ten, in denen sie unun­ter­bro­chen schlu­gen, fiel end­lich der Baum. Die India­ner nah­men als ihren Anteil alle Kas­sa­wa, Zucker­rohr, Yams, Bana­nen, Bata­ten, Kür­bis­se und Was­ser­me­lo­nen. Das Aguti und die Paka und ande­re Tie­re schlüpf­ten in die Zwei­ge, um sich alles zu holen, was sie gern hat­ten. Als der Tapir end­lich vom Fluss­ufer zurück­kam, hat­te man nur noch die Pflau­men für ihn übrig gelas­sen, und mit die­sen muss er sich bis zum heu­ti­gen Tag zufrie­den geben.

Als die India­ner nach Hau­se kamen, leb­ten Sie nun in einem wah­ren Über­fluss. Sie hat­ten mehr als genug von allem, was sie von dem gefal­le­nen Baum geern­tet hat­ten, und mach­ten sich kei­ne Sor­gen mehr. Sie fei­er­ten rau­schen­de Fes­te und aßen und tran­ken bis sie nicht mehr konnten.

Lei­der jedoch, gin­gen die Vor­rä­te schnel­ler zur Nei­ge, als sie gedacht hat­ten und vie­les war auch nicht so lan­ge halt­bar und so ver­faul­te ein gro­ßer Teil der gesam­mel­ten Lebens­mit­tel. Man kann sich ihr Ent­set­zen viel­leicht vor­stel­len. Sie ent­sand­ten also schnell das Aguti zu dem Baum, um zu schau­en, ob dort in der Zwi­schen­zeit neue Früch­te gewach­sen sei­en. Aber das Aguti kehr­te mit sehr betrüb­li­chen Nach­rich­ten zurück: Der Baum lag tot in der Gran Saba­na und hat­te nur noch tro­cke­ne Äste. Ledig­lich sein Stumpf war ste­hen­ge­blie­ben, aber auch die­ser war tot und kahl.

In Ihrer Not rie­fen sie den Ältes­ten­rat zusam­men. Nach lan­ger, erfolg­lo­ser Bera­tung wand­te sich die­ser an den wei­sen Bunia-Vogel.

Der Bunia-Vogel muss­te ihnen die Tor­heit ihres Han­delns nicht mehr erklä­ren, sie hat­ten sie selbst schon längst erkannt. Und so erklär­te er ihnen, wie sie aus den Samen der ver­faul­ten Früch­te neue Pflan­zen auf­zie­hen konn­ten. Er erklär­te ihnen, wie jede ein­zel­ne Frucht fort­zu­pflan­zen sei, wie sie geern­tet wer­den konn­ten, ohne den Baum zu beschä­di­gen und wie sie halt­bar gemacht wer­den konnten. 

Fort­an ver­brach­ten die India­ner ihre Tage damit, aus dem Samen der Früch­te des Alle­pan­tepo neue Bäu­me zu Pflan­zen. Dies war sehr müh­sam, denn es stell­te sich her­aus, dass die Bäu­me Jah­re brauch­ten, bis sie über­haupt tru­gen und dann auch nur eine ein­zi­ge Art Früch­te. Einen Baum, in der Grö­ße und mit der Fül­le an ver­schie­de­nen Früch­ten, wie den Alle­pan­tepo, gab es nie wieder.

Von dem Tag an waren den India­nern ihre Bäu­me hei­lig. Nie wie­der schlu­gen sie einen ohne trif­ti­gen Grund. Der Wald und die Bäu­me wur­den zu ihren Freun­den und Lebensspendern. 

«…und den Stumpf des Alle­pan­tepo», been­det sie ihre Geschich­te, «habt ihr auf dem Weg hier­her gese­hen. Er ist, der Sage nach, ste­hen­ge­blie­ben und versteinert.»

Ein sagen­haf­ter Tepui

Bal­bi­na hat die Geschich­te auf Spa­nisch erzählt und, damit es alle ver­ste­hen, hat Fidel par­al­lel auf Eng­lisch über­setzt. Jetzt kom­men eini­ge Nach­fra­gen sei­tens der bei­den Deut­schen, da sie nicht so gut Eng­lisch kön­nen. Zu unse­rer aller Über­ra­schung, beant­wor­te­te Bal­bi­na eini­ge der Fra­gen auf Deutsch!

Jetzt ist unse­re Neu­gier natür­lich geweckt! Auf die Fra­ge, wo sie das gelernt habe, ant­wor­tet sie, dass sie ein­mal ein hal­bes Jahr in Deutsch­land gewe­sen sei. Zwei Mün­che­ner Tou­ris­ten, die sie als Füh­re­rin ken­nen gelernt habe, hät­ten sie zu die­ser Rei­se eingeladen. 

Natür­lich wol­len wir die gan­ze Geschich­te hören, und Bal­bi­na fährt fort zu erzählen:

Balbinas Geschichte

Ich lie­be die Gran Saba­na. Ich lie­be mei­ne Hei­mat. Aber mein größ­ter Traum war es schon als Mäd­chen, ein­mal Euro­pa, ein­mal das fer­ne Land, von dem ich so vie­le unglaub­li­che Geschich­ten gehört hat­te, zu berei­sen. Ein Traum, so weit weg, dass ich nie für mög­lich gehal­ten hät­te, dass er jemals real wer­den könne. 

Ich war damals Häupt­ling eines Stam­mes in der Nähe von Canaí­ma. Zu der Zeit beweg­ten wir uns schon nicht mehr nur in unse­rem tra­di­tio­nel­len Leben, son­dern ver­dien­ten uns auch schon mit Füh­run­gen etwas Geld. Ich lern­te also auf einer der Wan­de­run­gen, die ich führ­te, die bei­den Deut­schen ken­nen. Und irgend­wann frag­ten sie mich, ob ich sie nicht ein­mal in Deutsch­land besu­chen wol­le? Sie woll­ten mich dazu ein­la­den, mir den Flug bezah­len. Natür­lich konn­te ich das nicht glau­ben und woll­te es auch nicht anneh­men. Aber sie bekräf­tig­ten ihre Ein­la­dung immer wie­der und in mir keim­te der sehn­li­che Traum mei­ner Jugend wie­der auf, soll­te er wirk­lich wahr werden?

Als ich das mei­nem Stamm berich­te­te waren alle ande­ren sehr trau­rig. Der Ältes­ten­rat wur­de ein­be­ru­fen und tag­te gan­ze 2 Tage lang. Sie bespra­chen und dis­ku­tier­ten mein Ansin­nen. Am Ende war ihre Ent­schei­dung getrof­fen und sie stell­ten mich vor die Wahl: wenn ich weg­gin­ge, müss­te ich das Häupt­lings­amt für immer niederlegen.

Jetzt stand ich natür­lich vor eine sehr schwe­ren Ent­schei­dung: soll­te ich für mei­nen Traum alles auf­ge­ben? Ich wuss­te ja, dass die­ser Besuch nur ein paar Mona­te dau­ern wür­de. Was wür­de danach aus mir wer­den? Wür­den die Deut­schen über­haupt ihr Wort hal­ten? Von den Wei­ßen in Vene­zue­la war ich ande­res gewöhnt. Hier wird immer so viel ver­spro­chen, und so wenig gehalten…

Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ich wür­de Euro­pa sehen

Aber mein Wunsch, das fer­ne Land ken­nen zu ler­nen war so groß, dass ich mich trotz aller Beden­ken dazu ent­schloss, den Schritt zu wagen. Ich nahm also wie­der Kon­takt mit den bei­den auf, schrieb ihnen einen Brief. Und wirk­lich, sie bekräf­tig­ten ihre Ein­la­dung und schick­ten mir ein Flugticket! 

Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ich wür­de Euro­pa sehen, alles ande­re wür­de sich dann schon ergeben…

Schon der Flug war für mich ein rie­si­ges Aben­teu­er. Plötz­lich den fes­ten Boden unter den Füßen zu ver­lie­ren ist für uns India­ner eigent­lich unvor­stell­bar. Ich sah plötz­lich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben die Wol­ken von oben, und dach­te, das sei schon Euro­pa. Ich frag­te mich nur, war­um es so weiß sei? Es war eine ver­rück­te Erfahrung. 

Irgend­wann lan­de­te das Flug­zeug in Mün­chen. Die bei­den, die mich ein­ge­la­den hat­ten, schick­ten Freun­de, um mich vom Flug­ha­fen abzu­ho­len, da sie arbei­ten muss­ten. Ihre Freun­de aber, erkann­ten mich am Flug­ha­fen gar nicht – denn sie hiel­ten, wie selbst­ver­ständ­lich, die gan­ze Zeit Aus­schau nach einer India­ne­rin mit Feder­schmuck und Len­den­schurz! Und ich war natür­lich in ganz nor­ma­le Sachen gekleidet!

In Euro­pa war dann natür­lich alles neu für mich. Noch nie hat­te ich so gro­ße Städ­te, so vie­le Men­schen, so wenig Natur gese­hen. Ich nahm alles wiss­be­gie­rig in mich auf und kam viel rum. Nach eini­gen Mona­ten bei mei­nen Freun­den mach­te ich mich dann allei­ne auf den Weg, um mit der Eisen­bahn noch ande­re Orte in Euro­pa zu besu­chen. Ich kam viel rum, war in Deutsch­land, Hol­land und Eng­land. Das waren tol­le Monate.

Aber so gut es mir gefal­len hat, es war doch eine ande­re Welt für mich. Nachts konn­te ich oft nicht schla­fen, da mir die Geräu­sche des Wal­des fehl­ten. Statt­des­sen hör­te ich Autos, Züge und Men­schen. Das Heim­weh zu mei­nem Stamm, zu unse­rem Wald, zu der Gran Saba­na wuchs und wuchs in mir und obwohl ich nicht wuss­te, was mich zuhau­se erwar­ten wür­de, sehn­te ich mich nun nach nichts sehn­li­cher, als zurückzukehren.

Nach einem hal­ben Jahr dann ging mein Flug zurück und ich kam wie­der wohl­be­hal­ten bei mei­nem Stamm an. Die Rei­se ver­lief noch recht aben­teu­er­lich, aber das ist eine ande­re Geschichte.

Sie nah­men mich herz­lich wie­der in ihren Kreis auf und woll­ten natür­lich alles über Euro­pa wis­sen. An vie­len Aben­den muss­te ich ihnen die Geschich­ten am Lager­feu­er erzäh­len und sie hör­ten stau­nend zu. Die Häupt­lings­wür­de aller­dings, habe ich nie wie­der bekommen. 

Und damit been­det sie ihre Geschich­te für heu­te. Ger­ne hät­ten wir noch mehr gehört – aber durch das Über­set­zen ist es schon sehr spät gewor­den. Der Mond steht hoch am Him­mel und es ist mitt­ler­wei­le emp­find­lich kalt gewor­den. So beschlie­ßen wir, uns vol­ler Vor­freu­de auf den mor­gi­gen Tag, der noch ein­mal ganz im Zei­chen des Rorai­ma ste­hen soll, in unse­re Zel­te zurückzuziehen.

Noch lan­ge lie­ge ich wach und den­ke über Bal­bi­nas Erzäh­lun­gen nach. Es beein­druckt mich, dass die Indi­os hier, trotz Anpas­sung an die Zivi­li­sa­ti­on, noch sehr tra­di­tio­nell sind. Sie spre­chen ihre Stam­mes­spra­che, tra­gen Ihre Legen­den von Mund zu Mund und erzäh­len auch uns sehr offen davon. Und sie sind sehr natur­ver­bun­den. Sie ach­ten peni­bel auf allen Details. Wenn Bal­bi­na auf unse­ren Wan­de­run­gen auf dem Tepui an einer acht­los von irgend­ei­nem Stie­fel aus­ge­ris­se­nen Pflan­ze vor­bei­kommt, drückt sie die­se sofort wie­der lie­be­voll in die Erde – unser abge­stumpf­tes Auge bemerkt es noch nicht mal…


Der Wun­der­baum, in einer etwas ande­ren Fas­sung, und vie­le wei­te­re india­ni­sche Sagen und Legen­den aus Süd­ame­ri­ka fin­det ihr auf zeno​.org

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