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Morgengruß – Roraima Trek, 4. Tag

Ein Pan­ora­ma wie eine topo­gra­fi­sche Landkarte

Die­se Nacht ist die Höl­le. Die Tem­pe­ra­tur ist unter der Gefrier­punkt gefal­len und jetzt macht sich unse­re schlech­te Aus­rüs­tung bemerk­bar. Die Iso­mat­te, die mir der Typ von der Agen­cy gege­ben hat, ist super­dünn und iso­liert nicht wirk­lich auf dem nack­ten Fels. Mein Schlaf­sack ist ein Som­mer­mo­dell, auch er ist bei den nun herr­schen­den nächt­li­chen Minus­gra­den hoff­nungs­los überfordert.

Ich behel­fe mir so gut es geht, in dem ich alle Kla­mot­ten, die ich mit habe, über­ein­an­der zie­he. Viel schlim­mer geht es Nico. Er hat gar kei­ne Iso­mat­te, weil der Dicke von der Agen­cy sie ja ver­ges­sen hat. Ich schla­ge ihm vor, dass wir uns mit der Iso­mat­te alle 2 Stun­den abwech­seln, aber davon will er nichts wis­sen. Fal­scher Stolz, wie sich noch her­aus­stel­len soll.

Nico legt all sei­ne Sachen als Unter­la­ge aus und hofft, somit der Käl­te etwas zu ent­kom­men. Dass das nicht wirk­lich funk­tio­niert, mer­ke ich an sei­nem unru­hi­gen Schlaf. 

Die kal­te Nacht ist noch nicht ganz zuen­de, da höre ich plötz­lich Bal­bi­na vor unse­rem Zelt. Sie ver­sucht, uns zu wecken. Nanu, den­ke ich, es ist doch noch dun­kel? Ich mache den Reiß­ver­schluss des Zel­tes einen Spalt auf und ste­cke mei­nen Kopf raus. Warm ist anders. Sie deu­tet auf den Him­mel und sagt nur: «Du foto­gra­fierst doch ger­ne…» und jetzt sehe ich was sie meint. Glut­rot färbt sich der Him­mel über dem Rorai­ma. Es sieht aus, als stün­den die Wol­ken in Flam­men. Plötz­lich ist die Käl­te ver­ges­sen. Ich grei­fe zur Nikon und sprin­ge aus dem Zelt. Da ich ja sowie­so in mei­nen Anzieh­sa­chen geschla­fen habe, muss ich kei­ne Zeit mit Anzie­hen vergeuden. 

Was für ein Morgengruß!

Die Beleuch­tung ist fantastisch

Direkt vor unse­ren Zel­ten liegt ein Tüm­pel, in dem sich Regen­was­ser gesam­melt hat. Dort­drin spie­gelt sich die gesam­te Pracht des Him­mels noch ein­mal. Wow. Ich rufe Nico zu, er sol­le sich das auf kei­nen Fall ent­ge­hen las­sen, aber er brummt nur miss­mu­tig zurück. Er ist froh, dass er in sei­nem Schlaf­sack liegt.

und noch steigerungsfähig!

Nach­dem ich das Schau­spiel foto­gra­fiert habe gehe ich die fünf­zig Meter zur Kan­te des Rorai­ma, um die Aus­sicht zu genie­ßen. Ich erhof­fe mir, noch ein­mal die mor­gend­li­chen fünf Minu­ten zu erle­ben, in denen das Streif­licht der Son­ne die Gran Saba­na tief unter uns in die­ses unver­gleich­li­che Reli­ef taucht. Als wir das ges­tern gese­hen haben, waren wir ja noch am Fuß des Rorai­ma, fast tau­send Meter tie­fer. Wie mag das jetzt von hier oben aus aussehen?

Vor­sich­tig nähe­re ich mich Schritt für Schritt dem Abgrund. Hier gibt es kei­nen Zaun und kein Gelän­der um einen Absturz zu ver­hin­dern. Bal­bi­na hat­te uns von Besu­chern berich­tet, die urplötz­lich von einer Böe erfasst wur­den und abge­stürzt sind. Die­ser Gedan­ke und ein sich all­mäh­lich stei­gern­des Schwin­del­ge­fühl las­sen mich vor­sich­tig sein. Momen­tan ist es zwar wind­still, aber wie lau­nisch das Wet­ter hier oben sein kann, haben wir ja schon erlebt.

Mor­gend­li­cher Blick auf den Kukenán

Ich gehe bis einen Meter vor die Kan­te. An einem gro­ßen Fel­sen hal­te ich mich fest. Nach unten sind es fast tau­send Meter. Unvor­stell­bar. Wirk­lich. Ich las­se den Blick über die Gran Saba­na schwei­fen. Noch liegt sie flach im Schat­ten des Rorai­ma. Tief atme ich die fri­sche, mor­gend­li­che Luft in mei­ne Lun­gen ein und wer­de mir der Situ­ta­ti­on ganz bewußt, in der ich mich hier befin­de. Allei­ne ste­he ich hier auf dem Dach der Welt – und so fühlt es sich wirk­lich an – und kann kilo­me­ter­weit über die Gran Saba­na bli­cken. Es ist ein Blick wie aus dem Flug­zeug. Ach was sage ich – viel bes­ser! Kein Raum um mich her­um, kein Fens­ter, son­dern nur die pure Wei­te. Alles ande­re wirkt von hier aus so klein, so unwich­tig. Ich spü­re die Groß­ar­tig­keit und Impo­sanz der Natur mit einer sel­ten erleb­ten Intensität. 

Links der Rorai­ma, rechts die end­lo­se Wei­te der Gran Sabana

Gestört wird das Bild – natür­lich – auch hier von klei­nen Rauch­säu­len. Von Men­schen­hand ange­zün­de­te Savan­ne. Die Suche nach unbe­rühr­ter, per­fek­ter Natur gestal­tet sich heu­te, und das ist ein wirk­lich glo­ba­les Pro­blem, immer schwie­ri­ger. Wie weni­ge Fle­cken gibt es noch auf die­ser Erde, an der die Natur unbe­rührt ist? Man muss sie mitt­ler­wei­le lan­ge suchen. 

Was hät­te die Gene­ra­ti­on vor uns gesagt, wenn man sie in unse­rem Alter gefragt hät­te? Was hät­ten die Men­schen zwei Gene­ra­tio­nen vor uns gesagt? Und was wird die Gene­ra­ti­on nach uns vor­fin­den? Wie kurz ist doch die Zeit­span­ne, in der die Bevöl­ke­rung auf der Welt explo­diert ist. In der mit der Indus­tria­li­sie­rung die scho­nungs­lo­se Aus­beu­tung aller natür­li­cher Res­sour­cen ein­ge­läu­tet wurde.

Kein Mensch kann jemals das wie­der­her­stel­len, was die Natur über Jahr­mil­lio­nen erschaf­fen hat wenn es erst­mal zer­stört wur­de. Und das Zer­stö­ren, das sehen wir tag täg­lich, das geht in weni­gen Jahr­zehn­ten. Selbst hier auf die­sem Jahr­mil­lio­nen sich selbst über­las­se­nen Tafel­berg hat der Mensch inner­halb von weni­gen Deka­den sei­ne Spu­ren hinterlassen. 

Wäh­rend mir die­se Gedan­ken durch den Kopf schie­ßen, erreicht die Son­ne den Rand des Rorai­ma und ich darf noch­ein­mal erle­ben, wor­auf ich so gehofft hat­te: Tief unter mir erscheint rot leuch­tend das Reli­ef der Gran Saba­na. Ges­tern noch stand ich fast tau­send Meter tie­fer und es war schon impo­sant. Und was kaum stei­ge­rungs­fä­hig erschien, wird heu­te doch noch ein­mal über­trof­fen. In einem hun­dert­ach­zig Grad Pan­ora­ma liegt vor mir die Gran Saba­na mit ihren sanf­ten Hügeln im röt­li­chen Streif­lich der auf­ge­hen­den Son­ne. Jeder Hügel wird vom sanf­ten mor­gend­li­chen Licht ange­strahlt und wirft sei­nen Schat­ten auf den nächs­ten Hügel. 

Ein Pan­ora­ma wie eine topo­gra­fi­sche Landkarte

Es ist wirk­lich zau­ber­haft und ich genie­ße jeden Augenblick.

Erneut sind es nur eini­ge, kost­ba­re Minu­ten, die die­ses Schau­spiel anhält, dann ist es vor­bei, die Schat­ten sind ver­schwun­den und kurz danach ver­schwin­det auch die Son­ne hin­ter den Wol­ken. Zeit für mich, zum Lager zurückzukehren.

Ich bin vol­ler Taten­drang, ich will mehr von dem Tepui sehen. Nico ist nicht so gut drauf. Er hat kaum geschla­fen. Wir kön­nen wirk­lich noch froh sein, dass das Wet­ter so gut ist! Undenk­bar, wenn wir mir der Aus­rüs­tung, die unser zur Ver­fü­gung gestellt wur­de, hier oben in tage­lan­gem Regen, Hagel oder Schnee hät­ten ver­brin­gen müs­sen. Auch sol­che die­se Wet­ter­si­tu­ta­tio­nen sind für den Rorai­ma nicht unüblich.

Nach einem lie­be­voll von Bal­bi­na und Tho­mas, ihrem Beglei­ter, zube­rei­te­ten Früh­stück, bre­chen wir um acht Uhr zur wei­te­ren Erkun­dung des Pla­teaus auf. Ich kann es kaum erwar­ten, Nico ist – ver­ständ­li­cher­wei­se – nicht so moti­viert. Zusätz­lich zu der schlim­men Nacht pla­gen ihn sein Bla­sen näm­lich ziem­lich. Mitt­ler­wei­le haben sei­ne Füße mehr offe­ne stel­len, als hei­le Haut. Trotz­dem hat er sie sich wie­der tap­fer getaped und wan­dert mit.

P.S.: Die Bil­der unbe­dingt in Groß anschau­en! Drauf­kli­cken und dann mit den Pfeil­tas­ten vor und zurück blät­tern! Alle Bil­der fin­det ihr in der Rorai­ma-Gal­le­rie!

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