Es war alles entspannt geplant. Gestern sollte mein letzter Arbeitstag gewesen sein, heute hätte ich den Zug um 13:00 genommen, mich mit Diana in Hamburg getroffen, gemeinsam zum Flughafen und ab nach Brasilien. Dem Urlaub entgegen, auf den wir uns so lange gefreut haben! Endlich kann ich ihr meine alte Heimat zeigen und wir freuen uns auf die gemeinsamen 3 Wochen. Die Wochenendbeziehung, die wir im Moment führen, ist auf Dauer schon nervig.Leider kommt es etwas anders. Gestern wurde noch ein kurzfristiges Meeting seitens unserer Geschäftsführung für heute Vormittag um 9 Uhr angesetzt. Im Leben gibt es noch anderes, außer Reisen und ferne Länder.
„Wie, da haben Sie schon im Urlaub? Wieso das denn?“
„Äh… :-?“
„Sind Sie da etwa schon physisch weg?“
„Nein, aber unser Flug geht am Nachmittag.“
„Na, dann schaffen Sie das doch problemlos… Dauert auch höchstens eine Stunde.“
Naja, wenn es nur bis 10 geht, denke ich noch…
Aber erstens kommt es anders – und zweitens als man denkt. Ich kenne das ja schon. Das Meeting geht bis nach 11. Dann stehen noch ein paar Mitarbeiter in meinem Büro und haben Fragen. Als ob sie die nicht in den letzten Tagen hätten stellen können. Alle wussten, dass ich heute eigentlich nicht mehr hier bin.
Ich packe mein Notebook zusammen, während ich noch ein paar Antworten gebe. Sorry Leute – ich muss jetzt wirklich los! Bis in 3 Wochen! Ja, und Dir einen schönen Urlaub – wo fliegst Du nochmal hin?
Brasilien!
Jetzt endet das doch noch im Stress. So wollte ich den Urlaub eigentlich diesmal nicht wieder anfangen lassen. Schnell nachhause. Umziehen. Die Wohnung urlaubsfertig machen. Noch schnell die Blumen gießen, einen Happen essen. Verderbliches aus dem Kühlschrank raus, Stecker ziehen, Wasser abstellen und die ganze Zeit das Gefühl, irgendetwas Wichtiges zu vergessen. Geht das eigentlich nur mir so?? Egal, es ist sowieso keine Zeit mehr darüber nachzudenken.
Also schnell den Rucksack hochgestemmt, die Umhängetasche (in unserer urbanisierten Welt nennt man so etwas heute «Messenger-Bag», habe ich gelernt) mit den wichtigen Dingen drin in der einen, den Müllbeutel in der anderen Hand und dann schnell runter – noch kurz beim Mülleimer vorbei und zur Bushaltestelle, die zum Glück gegenüber ist. Keine Minute zu früh, denn da kommt der Bus schon. Puh. Zum Bahnhof braucht er doch eine halbe Stunde, ich bin heilfroh, dass ich nicht einen späteren Bus genommen habe!
Geschafft. Erste Etappe. Irgendwie ist das immer ein wirklich befreiendes Gefühl, wenn man dann wirklich den Absprung von allem geschafft hat. Von der Arbeit, von Zuhause, vom Gefühl etwas vergessen zu haben und von all den Verpflichtungen, die sich ja gerade vor einem solchen Urlaub immer so richtig drängen, als ob sie sagen wollen: Du kannst hier nicht weg, überleg mal, was Du zurücklässt!
Es ist ein schönes Gefühl, ein sehr schönes. Und ich sitze jetzt im ICE nach Hamburg und genieße es. Ich schreibe Diana eine SMS, dass ich unterwegs bin. Sie schreibt zurück, dass sie noch arbeitet. Sie hat bestimmt den gleichen Stress und für sie ist dieser befreiende Moment noch nicht da. Ihre Anreise nach Hamburg ist kürzer, daher «kann» sie noch länger arbeiten. Logik!
Um 15:00 wollen wir uns an Gleis 6 auf dem Hamburger Hauptbahnhof treffen, auf der Seite vom «Schweinske». Wir hatten verabredet, dass wir nur mein Handy mitnehmen. Unterwegs brauchen wir ja nur eins für Notfälle und da reicht das. Und die Verabredung in Hamburg ist ja auch eindeutig, was soll da schon schiefgehen?
Als der Zug am letzen Halt vor dem Hauptbahnhof, in Hamburg Harburg hält, weiß ich, dass ich fast da bin und freue mich schon, Diana in den Arm zu nehmen.
Plötzlich kommt eine Durchsage. „Sehr geehrte Fahrgäste, dieser Zug kann leider auf unbestimmte Zeit wegen eines Brandes auf den Schienen nicht weiterfahren. Ich wiederhole…“
Scheiße. Jetzt tritt doch der Fall ein. Diana wartet, ich komme nicht und sie hat kein Handy. Kurz denke ich an Murphys Gesetzt. Rechne immer mit dem Schlimmsten, was schief gehen kann wird auch schief gehen. Problem ist, dass ich es noch nie geschafft habe, das zu verinnerlichen. Offenbar steht es im Kontrast zu meiner optimistischen, brasilianisch geprägten Lebenseinstellung die eher nach dem Motto funktioniert – mach Dir keine Sorgen über den Worst-Case, es gibt immer einen Weg, auch aus der größten Scheiße!
Über diesen Gedanken höre ich gerade noch die Worte S‑Bahn und Hauptbahnhof und „wer es eilig hat“, da stürme ich schon mit meinen 20 Kilo Rucksack und meiner Umhängetasche aus dem Zug. Ja, das bin ich, der, der es eilig hat!
Es dauert ein paar Minuten, bis die S‑Bahn kommt. 15 Uhr ist durch, aber ich bin guter Dinge. Gleich bin ich bei Diana.
Leider weiß sie das aber nicht. Und so kann ich nur ihre Sorgen erahnen, als plötzlich mein Handy klingelt und sie dran ist. Offenbar ruft sie von einer Telefonzelle an. Ich sage nur „warte an Gleis 6, ich bin gleich da“ und da ist das Gespräch auch schon wieder unterbrochen. Geld alle, vermute ich.
Bin ich der Einzige, der sich fragt, was Telefonzellen mit Karten im Handyzeitalter noch für einen Sinn machen? Eine Telefonzelle braucht man heute doch nur im Notfall – und wer hat dann schon eine Telefonkarte dabei? Schon eher etwas Kleingeld. Die 3x an denen ich in den letzten Jahren eine Telefonzelle gebraucht hätte, sind daran gescheitert, dass ich keine Telefonkarte hatte und dort auch keine zu kaufen war. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht gewusst hätte, was ich mit dem Restguthaben machen soll. Als wirtschaftlich denkender Mensch möchte man sein Geld ja nicht zinslos binden. Aber ich schweife ab…
Jetzt hält die Bahn am Hauptbahnhof und ich eile die Treppen hoch zur Traverse auf der Seite vom Schweinske. Schieße, wo ist sie? Wir müssen doch auch den Flughafenbus erreichen!
Plötzlich sehe ich sie. Ja, da steht sie, mit ihrem blauen Rucksack! Ich eile auf sie zu und wir freuen uns beide riesig! Schnell rennen wir nach draußen, um möglichst bald einen der Flughafenbusse zu erreichen.
Wir ergattern einen, und zum Glück fährt er kurz danach. Unsere Bahnfahrkarten haben wir bis zum Flughafen durchgelöst und auf der Routenbeschreibung der Deutschen Bahn steht auch die Busgesellschaft drin, mit der wir jetzt fahren. Kein Problem. Oder? Der Busfahrer sieht das jedenfalls anders. Wir sollen die Fahrt extra zahlen. Offenbar hat das bei der Bahn Methode, wie uns der Busfahrer erklärt. Seit Jahren druckt die Bahn offenbar die Strecke der privaten Flughafenbusgesellschaft mit auf die Tickets und erzeugt so den Eindruck bei den Fahrgästen, sie hätten durchgelöst. Willkommen in Südamerika?
Leider Noch nicht ganz. Erstmal noch am Flughafen einchecken, aber das sollte ja hier in Hamburg kein Problem sein.
Kein Problem?
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